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Floria Hernandez lässt Floria Netrebko vergessen

Text Mordechai Aranowicz

Tosca La scala

Im Vorfeld der Nachmittagsvorstellung von Tosca an der Mailänder Scala vom 22.12.2019 war die Absage von Anna Netrebko bekannt geworden, auf deren Auftritte sich das Hauptinteresse der diesjährigen Inaugurazione konzentriert hatte. Saioa Hernandez, die seit ihren Auftritten als Odabella in Attila keine Unbekannte mehr ist, hatte jedoch bereits einen Teil der Tosca-Proben als Alternativbesetzung absolviert und war ohnehin für die drei Vorstellungen im Januar vorgesehen.

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Saioa Hernandez © saioa-hernandez-ph-lourdes-balduque-gallery1

Da war es nur logisch, dass sie nach der Absage Netrebkos deren beide Dezember-Vorstellungen übernahm. Hernandez ist eine in jeder Hinsicht erstklassige Tosca. Eine klare, kräftige Stimme mit schöner Intonation,  sicher geführt in allen Lagen. Eine wahre Entdeckung und ein absolut würdiger Ersatz für Anna Netrebko, von dem man hoffentlich noch viel hören wird! Für ihre musikalische Darbietung, sowie die glaubhafte und berührende Darstellung wurde Hernandez auch entsprechend vom Publikum gefeiert.

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Francesco Meli © © Marco Brescia & Rudy Amisano | Teatro alla Scala

Bei einer so großartigen Titelrollensängerin hatten die Männer es schwer: Francesco Meli zeigte insbesondere bei ‘Recondita Armonia’ noch Anzeichen von Nervosität, seine ‘Vittoria-Rufe’ im zweiten Akt klangen jedoch deutlich frei gesungen und höhensicher, das wunderbar innig vorgetragene ‘E lucevan le stelle’ vermochte dann auch emotional zu berühren.

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Luca Salsi © © Marco Brescia & Rudy Amisano | Teatro alla Scala

Luca Salsi polterte als Scarpia etwas grob stimmig durch die Vorstellung, blieb dagegen darstellerisch jedoch eher zurückhaltend und fand erst kurz vor seiner Ermordung zu der Brutalität, die der römische Polizeichef idealerweise verkörpern sollte.

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© © Marco Brescia & Rudy Amisano | Teatro alla Scala

Davide Livermore hatte sich bei der Produktion für eine traditionelle Inszenierung entschieden, bei der (fast) alles so passiert, wie es im Textbuch steht. Die prachtvollen Bühnenräume des Mailänder Designstudios Gio Forma (aus drei Bühnenbildnern bestehend!), sorgten für viele Überraschungseffekte und optische Abwechslung, wobei die virtuose Bühnentechnik der Scala auf ein Maximum ausgereizt wurde. Allerdings wäre im ersten Akt etwas mehr Ruhe manchmal von Vorteil gewesen.

Gianluca Falaschis Kostüme waren dagegen weniger gelungen: Neben wirklich scheußlichen Kostümen für Tosca und Scarpia, wurden für dessen Agenten Ledermäntel entworfen, deren Schnitte der napoleonischen Zeit mit Nazi-Assoziationen kombinierten, welche in der sonst so stimmigen Produktion wie Fremdkörper wirkten.

Großartig gelöst auch die Schlussszene: Wenn sich Tosca von der Engelsburg stürzt, erleben wir perfekt koordiniert, wie eine Double in Lichtstrahlen gen Himmel schwebt.

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© Marco Brescia & Rudy Amisano | Teatro alla Scala

Motor und Herz dieser wunderbaren Aufführung war Riccardo Chailly, dessen abwechslungsreiches Dirigat stets Spannung und Gefühlszustände kombinierte und so einen atemlosen Opernkrimi entstehen ließ. Als Besonderheit hatte sich Chailly für die Urfassung der Oper aus dem Jahr 1900 entschieden, welche an diversen Stellen Striche öffnete, wobei jedoch einzig ein kurzer Dialog zwischen Tosca und Scarpia in der Mitte des ‘Vissi d`arte’ etwas redundant wirkte. Ansonsten war es spannend, einmal mit dieser Alternativfassung konfrontiert zu sein. Am Ende großer, nicht enden wollender Jubel für alle Beteiligten.

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© Mordechai Aranowicz

Manon-Premiere Oper Zürich 7.4.2019: Man hat schon Schlimmeres gesehen

Manon Zurich

Text Mordechai Aranowicz

 

Die Premiere von Jules Massenets Oper Manon am Opernhaus Zürich geriet zu einer etwas zwiespältigen Angelegenheit, bei der der Funke nicht so recht überspringen wollte. Das lag zum einen sicherlich am Dirigat von Marco Armiliato, der Massenets Musik wenig französisch, weitgehend spannungsarm, sowie farb- und leidenschaftslos abspulte. Im Mittelpunkt der Aufführung stand dagegen Piotr Beczala als des Grieux, dessen Auftritte an seinem einstigen Züricher Stammhaus selten geworden sind.

Beczala, der die Rolle 2011 bereits an der Met an der Seite von Anna Netrebko gesungen hatte, überzeugte rundum mit seinem in allen Lagen perfekt geführtem Tenor und charmantem Spiel, besonders in der Kirchenszene des dritten Aktes. Er versuchte, dem insgesamt sehr trägen Bühnengeschehen etwas Leben einzuhauchen. Dass Beczala dem des Grieux stimmlich  eigentlich bereits entwachsen ist, war bei einem Sänger, der demnächst den Radames in sein Repertoire aufnehmen wird, nicht anders zu erwarten.

Elsa Dreisig brauchte in der Titelrolle einige Zeit um stimmlich warm zu werden, überzeugte dann allerdings im Cours de la Reine-Bild mit glockenhellen Koloraturen, Darstellerisch blieb die Sängerin allerdings leider über weite Strecken blass.

Blass und stimmlich wenig präsent waren auch Yuriy Yurchuk als Lescaut, Eric Huchet als Guillot de Morfontaine und Alastair Miles als Comte des Grieux. Letzterer sang seinen Part  mit den Resten, seines einst so imposanten Basses.  Die übrigen Rollen waren insgesamt solide bis sehr gut besetzt.

Das am Premierenabend so wenig Stimmung aufkam lag auch an der Inszenierung von Floris Visser. Anders als bei zahlreichen Neuinszenierungen tat Visser dem Werk keine Gewalt an und überliess der Musik den Vorrang. Warum man jedoch, das Werk aus dem 18. Jahundert in die Enstehungszeit der Oper verlegen musste blieb unklar und erschien insgesamt ein eher willkürlicher Einfall, der nichts zum tieferen Verständnis der Oper beitrug.

Manon Zurich 1

Das Bühnenbild von Dieuweke van Reij war insgesamt funktional und machte es Dank Deckelung den Sängern akustisch einfach. Leider blieb dieser Rahmen jedoch insgesamt ziemlich stimmungslos, wozu auch die eintönige Lichtregie von Alex Brook verantwortlich war. Die auch von der Bühnenbildnerin entworfenen Kostüme waren zwar ästhetisch, grenzten die einzelnen Charaktere aber untereinander zu wenig ab, sodass gerade die Nebenrollen in den Massenszenen teilweise untergingen und man in diesen Momenten die Sänger in der Masse kaum wahrnahm. Hier wäre eine geschicktere Personenregie von Chor und Statisten wünschenswert gewesen.

Am Ende gab es für alle Beteiligten freundlichen Applaus, der nur für Elsa Dreisig und Piotr Beczala deutlich zunahm, beim Erscheinen des Regieteams dagegen deutlich abnahm. Buhrufe gab es jedoch keine.

Fazit: Diese Inszenierung ist zwar kein Ärgernis, aber auch nicht wirklich gut. Immerhin erhalten die Sänger der Hauptrollen genug Freiraum ihre Rollen zu gestalten, wobei sich das ganze Ensemble noch einspielen muss.

Trailer:

https://www.facebook.com/opernhauszuerich/videos/1773444599422066/

TOSCA an der MET: Anna Netrebko erobert Puccinis ikonische Diva

Text: Mordechai Aranowicz

Tosca poster

Zum Ende ihrer laufenden Saison präsentierte die Metropolitan Opera in New York sechs Aufführungen von Tosca, in denen Anna Netrebko als tragische Titelheldin debütierte. Dabei hatte sie sich diese wunderschöne Neuinszenierung von Sir David McVicar, die am vergangenen Silvesterabend ihre Premiere erlebte, für ihr stürmisch gefeiertes Rollendebüt ausgesucht. Die grosse Sängerin erhielt bereits nach ihren aus dem Off gesungenen Mario-Rufen stürmischen Auftrittsapplaus, der keine Vorschusslorbeeren bleiben sollte.

Tosca Netrebko

©Photo Ken Howard/Metropolitan Opera

Die Netrebko präsentierte sich auf dem Zenit ihres Könnens und scheint mit der Tosca eine Rolle gefunden zu haben, die in jeder Hinsicht zu ihrer dunkel timbrierten Stimme passt. Sie sang die Rolle mit warmem, sinnlichen Sopran, der in allen Lagen ausgezeichnet ansprach und zeichnete musikalisch einen Charakter, wie man ihn selten erlebt. Da erhielt jede Note eine tiefere Bedeutung, das Spiel Anna Netrebkos glühte in Liebe, Angst, Leidenschaft und Verzweiflung. Das berühmte “Vissi d`arte” und das anschließende “Vedi, le man giunte io stendo a te!” wurden vom Publikum mit einer atemlosen Stille verfolgt.

 

Tosca Cvaradossi

Najmiddin Mavlyanov © internet

Toscas geliebter Mario Cavaradossi war mit dem usbekischen Tenor Najmiddin Mavlyanov besetzt worden, der zum ersten Mal überhaupt an der Met sang. Der sympathische Sänger beeindruckte vom ersten Moment an mit seinem klaren, technisch perfekt geführten Tenor italienischer Schule, der ausgezeichnet mit Anna Netrebko harmonierte und mit mächtigen Vittoria-Rufen im zweiten Akt austrumpfte. Diese wunderbare Gesangsleistung wurde mit einem ausgezeichneten “E lucevan le stelle” abgerundet.

Tosca Scarpia

©Photo Ken Howard/Metropolitan Opera

Als Baron Scarpia war von der Premierenbesetzung einzig noch Zeljko Lucic übriggeblieben, der zum Te Deum-Chor (Einstudierung: Donald Palumbo) im ersten Akt einen imposanten Auftritt auf einem Podest hatte und auch in der großen Szene mit Tosca bewies, warum er an allen führenden Häusern der Welt zu Hause ist. Allein darstellerisch wirkte Lucic für den sadistischen Charakter über weite Strecken etwas zu nobel – hier hätte der Sänger durchaus etwas mehr Brutalität darstellen können.

 

Tosca Te deum

©Photo Ken Howard/Metropolitan Opera

Der idealen Rahmen für diese vorzüglichen Sänger bildeten die gigantischen, an den Originalschauplätzen orientierten Bühnenbilder und zeitgerechten Kostüme von John Macfarlane. Da war einmal eine prächtige, in Goldtönen funkelnde Kirche Sant`Andrea della Valle, das stimmungsvoll von Kaminfeuer und Kerzen beleuchtete Palazzo Farnese und die monumentale Plattform des Castel Sant`Angelos mit ihrer gigantisch aufragenden Engelsstatue vor einem Himmelsprospekt, der mit seinen drohend gemalten Wolken das aufkommende Unheil vorwegnahm.

 

Tosca sprong

©Photo Ken Howard/Metropolitan Opera

Die geschmackvollen Kostüme im Stil des Empire betonten die Wirren des Umbruchs, in dem sich Europa im Juni des Jahres 1800 befand und waren im Falle der Titelheldin eine wahre Augenweide. Der Ausstatter hatte mit dem schwarzen (und nicht roten!) Kostüm des zweiten Aktes ausserdem berücksichtigt, dass Frauen erst ab dem Biedermeier die Farbe schwarz nur noch für Trauerzwecke trugen, damals diese Farbe jedoch zu festlichen Anlässen üblich war.

Die Personenregie von David McVicar beleuchtete zum einen viele kleine Details, die sonst in Tasca Aufführungen leicht untergehen, hielt sich jedoch insgesamt zugunsten der phantastischen Sänger wohltuend zurück., was auch künftigen Besetzungen entgegenkommen dürfte. Insgesamt stellt diese Regiearbeit eine deutliche Verbesserung gegenüber der wenig geliebten Vorgänger Version von Luc Bondy dar, ohne aber die berühmte Inszenierung von Franco Zeffirelli aus dem Jahr 1985 in irgendeiner Weise zu kopieren.

Am Pult des phantastischen Met-Orchesters sorgte Betrand de Billy für eine zupackende, spannende Interpretation, die jedoch hin und wieder etwas gefühlvoller hätte seien dürfen. Das Publikum zeigte sich am Ende begeistert und feierte alle Beteiligten mit stehenden Ovationen.

Deze recensie verscheen eerder op Place de l’Opera

Der tigernde Holländer am Opernhaus Zürich

Text: Mordechai Aranowicz

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Mit gemischten Gefühlen verliess man den fliegenden Holländer am Opernhaus Zürich. Die Inszenierung des Intendanten Andreas Homoki und der Ausstattung von Wolfgang Gussmann aus dem Dezember 2012 war dabei eine grosse Enttäuschung. Es handelt sich um ein völlig austauschbares beliebiges Arrangement, das fast den ganzen Abend über mit Wagners selbst verfasstem Libretto frontal kollidiert, Libretto und Partitur einerseits und die Inszenierung andererseits waren völlig zweierlei Sachen, die kaum etwas miteinander zu tun haben.

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Statt der geforderten Schauplätze befinden wir uns in einem Seemanns-Kontor zu Beginn des 20. Jahrhunderts in dem es eben spukt. Dass im Libretto von Schiffen, Stürmen, Häfen, Spinnrädern die Rede ist schien dem Regisseur völlig egal, auch wer die Oper nicht kennt, dürfte beim Mitlesen der Übertitel das flaue Gefühl im Magen bekommen haben, dass hier inszenatorisch etwas völlig schiefläuft.

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Die unfreiwillige Komik mit einem afrikanischen Krieger in der Spukszene während des Fests der Matrosen im dritten Aufzug, war trauriger Höhepunkt, dieser völlig verfehlten Regie-Arbeit! Das war umso bedauerlicher, da mit Bryn Terfel einer der gefragtesten Holländer-Interpreten unserer Zeit zur Verfügung stand. Sein herber, robuster Bariton sprach am besagten Abend in allen Lagen bestens an, fand im Verlauf des Abends zu Leidenschaft und Ausdruck.

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Camilla Nylund war dabei eine ebenbürtige Partnerin, der man ihr leichtes Tremolo in der berühmten Ballade leicht nachsehen konnte, ihr wunderbarer dramatischer Sopran verlieh der Senta zahlreiche Farben und blühte im zentralen Duett des zweiten Aktes wunderbar in der Höhe auf.

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Steven Humes war ein Stimmlich etwas zu leichtgewichtiger Daland, man vermisste das Volumen und die Tiefe, die diese Rolle braucht. Marco Jentsch gab einen geschmeidig Stimmigen Erik, während die respaktable Leistung von Omer Kabiljak als Steuermann durch die Abstrusitäten der Regie völlig zunichtegemacht wurde.

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Der von Janko Kastelic präparierte Chor brachte sich klangstark mit ein, war jedoch optisch einfach grausam und unpassend kostümiert und musste sich wie bei so vielen Regiearbeiten von Andreas Homoki ohne Grund hyperaktiv betätigen ohne, dass dafür ein Grund erkennbar war.

Das Orchester und Markus Poschner spielte von der Ouvertüre an einen Wagner, der an Spannung und Farbreichtum kaum zu überbieten war. Viel Jubel am Ende dieses pausenlos gespielten Nachmittags für Sänger, Chor und Orchester, lange Gesichter auf der Treppe wegen einer weiteren ernüchternden und ärgerlichen Inszenierung.

Foto T+T Fotografie: Toni Suter + Tanja Dorendorf

Am 28.03.2018 im Opernhaus Zürich besucht

SEIN LIED WIRD NICHT VERSTUMMEN *

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Gerrit van Honthorst (1590-1656), King David Playing the Harp (1611), Centraal Museum Utrecht, Holland

Eine Gewissensfrage: Gibt es so etwas wie – Jüdische Musik -?
Wenn ja: Was ist das? Ist es Klezmer? Chassidischer Nigunim? Spanische Romanceros, jiddische Lieder, die synagogalen Gesänge, die Psalmen?
Und: Kann klassische Musik jüdisch sein? Liegt es am Komponisten? Ist die Musik jüdisch, wenn der Komponist jüdisch ist? Oder liegt es an den von ihm/ihr verwendeten Themen?

Eine kleine Spurensuche:

Musik spielte eine wichtige Rolle im Leben der alten Hebräer. Genau wie die meisten östlichen Völker waren sie sehr musikalisch. Musik, Tanz und Gesang waren für sie sehr wichtig: sowohl im täglichen Leben als auch in den synagogalen Diensten. Man bespielte auch verschiedene Instrumente: So nahm eine der Frauen von Salomon mehr als tausend verschiedene Musikinstrumente aus Ägypten mit.

Nach der Zerstörung des Tempels verschwanden – bis auf die Schofar – alle Instrumente aus den Synagogen und kehrten erst im XIX Jh. zurück.

Es existiert leider wenig geschriebene Musik von vor 1700. Jedoch wird 1917 das bis heute älteste, bekannte Musikmanuskript gefunden – es datiert aus ± 1100.

                                               KOL NIDRE

 

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Das bekannteste Gebet aus der jüdischen Lithurgie ist unzweifelhaft Kol Nidre: Bitte um Vergebung und um Nichtigkeitserklärung aller Gelöbnisse gegenüber Gott und sich selbst, die man während des abgelaufenen Jahres auf sich genommen hat.

Das Gebet soll noch vor der Verwüstung des Tempels entstanden sein, aber es bestehen auch Legenden, die den Ursprung des Gebets in die Hände der Marranen legen (spanische Juden, die sich unter dem Zwang der Inquisition zum katholischen Glauben bekehrten, aber im Herzen Juden blieben). So wurde um Vergebung gebeten für die unter Zwang gemachten Gelöbnisse.

Sicher ist, dass Rabbi Jehuda Gaon schon in 720 das Kol Nidre in seiner Synagoge in Sura einführte. Es ist auch ein Fakt, dass die Melodie, wie wir sie kennen, einige Verwandtschaft zeigt mit einem bekannten katalanischen Lied. Im Laufe der Jahre wird es durch verschiedene Vorsänger bearbeitet, die bekannteste Version stammt aus 1871 und ist von Abraham Baer.

Die Melodie wurde eine Inspirationsquelle für viele Komponisten: Das bekannteste ist das Werk für Cello und Orchester von Max Bruch.

 

 

Die Motive von Kol Nidre finden wir auch in der Symphonie von Paul Dessau und im fünften Teil des Streichquartetts op. 131 von Ludwig van Beethoven. Und dann dürfen wir auch das „Kol Nidre“ von Arnold Schönberg für Sprechstimme, Chor und Orchester nicht vergessen. Er komponierte es im Jahr 1939, im Auftrag einer jüdischen Organisation.

http://www.schoenberg.at/index.php/de/joomla-license-sp-1943310035/kol-nidre-op-39-1938

 

                                                     EINFLÜSSE


Jüdische Volksmusik ist nicht unter einen Nenner zu bringen und kennt eine Vielzahl von Traditionen: Nach ihrer Zerstreuung landeten die Juden in verschiedenen Teilen Europas, Asien und Afrika.

Die größte Entwicklung der eigenen Kultur manifestierte sich, merkwürdig genug, in den Zentren, wo Juden die wenigsten Freiheiten hatten. Jüdische Volksmusik war daher eigentlich Musik des Ghettos. Dort wo Juden einigermaßen in Freiheit lebten, „verwischte“ sich ihr eigenes „Ich“.

In den Ländern rundum das Mittelmeer wohnten die sogenannten Sephardim (von Sfarad, hebräisch für Spanien). Ihre Romanceros sangen sie in Ladino, eine Art geschundenes Spanisch. Nach ihrer Vertreibung aus Spanien und später aus Portugal wurden sie beeinflusst durch die Musik ihres neuen Gastlandes.

“Por Que Llorax Blanca Nina”(Sephardisches Lied aus Sarajevo) Jordi Savall, Montserrat Figueras:

In Ländern wie Polen und Russland lebten Juden in fortwährender Angst vor Verfolgungen, die nicht selten in Pogromen ausarteten. Als eine Art „Gegenreaktion“ entstand der Chassidismus, eine Bewegung, die auf Mystizismus, Spiritualität und magischen Doktrinen basierte. Er verkündete die Lebensfreude, eine Art Glückseligkeit, die durch Mittel von Musik, Tanz und Gesang erreicht werden konnte. Alleine so konnte der direkte Kontakt mit Gott erreicht werden. Chassidische Musik wurde stark beeinflusst durch polnische, russische und ukrainische Folklore. Später auch die Musik von Vaudevilles und Walzer von Strauss. Der Charakter dieser Werke blieb jedoch jüdisch.

 Bratslav nigun – Jewish tune of Bratslav (by Vinnytsia), Ukraine:

Auf ihre Weise haben die chassidischen Melodien enormen Einfluss auf klassische Komponisten gehabt: Denken Sie nur alle an Baal Shem von Ernest Bloch oder Trois Chansons Hebraiques von Ravel.

                                               JOSEPH ACHRON

ZIJN LIED ZAL NIET VERSTOMMEN *

 Courtesy of the Department of Music, Jewish National & University Library, Jerusalem, Achron Collection.

Arnold Schönberg sagte einmal über ihn, dass er der meist unterschätzte, unter den zeitgenössischen Komponisten war. Er rühmte seine Originalität und war sich sicher, dass seine Musik einen absoluten Ewigkeitswert hat.

Der bewanderte Violinenliebhaber kennt unzweifelhaft seine Hebrew Melody: eine sehr beliebte Zugabe aus dem Repertoire von so manchem Violinisten, beginnend mit Heifetz. Das Werk ist inspiriert von einem Thema, das Achron einst in einer Synagoge in Warschau hörte, als er noch ein kleiner Junge war. Er schrieb es 1911, es war eine seiner ersten Kompositionen und zugleich seine Form von „Farbe zu bekennen“: Er wurde Mitglied der Vereinigung für jüdische Musik.

Seine Laufbahn als Komponist begann jedoch erst spät in den 20er Jahren. In St. Petersburg schloss er sich den Komponisten, die vereinigt waren in der „Neuen Jüdischen Schule“, an.

1924 reiste er einige Monate nach Palästina, wo er nicht nur auftrat, sondern auch alle Volksmusik sammelte, die er antraf. Die Notizen, die er sich machte, wurden später in seinen Kompositionen verarbeitet. So findet man in seinem Violinenkonzert op. 30 einzelne jemenitische Themen. In den 30er Jahren flüchtete er, genau wie Schönberg, Korngold und viele andere jüdische Komponisten aus Europa nach Hollywood, wo er 1943 verstarb.

Josef Hassid spielt Jewish Melody von Achron:

 

                                               EIN EIGENER JÜDISCHER SOUND

Schon gegen Ende des 19. Jh. entstand in Petersburg (und später auch in Moskau) eine „Jüdische nationale Schule für Musik“. Die darin vereinigten Komponisten waren bestrebt Musik zu komponieren, getreu ihren jüdischen Wurzeln.

Außer Joseph Achron waren die wichtigsten Vertreter davon Michail Gnessin und Alexandr Krein. Ihre Musik war verankert in den jüdischen Traditionen von vorwiegend einer chassidischen „Nigun“ (Melodie).

Die Bewegung blieb nicht beschränkt auf Russland, denken Sie an den Schweizer Ernest Bloch und den Italiener Mario Castelnuovo-Tedesco, die auf der Suche nach ihren „Wurzeln“ einen vollkommen eigenen „jüdischen Stil des Komponierens“ entwickelt haben.

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Mario Castelnuovo-Tedesco

Synagogale Gesänge formten die Inspirationsquelle für u. a. Sacred Service von Bloch, Sacred Service for the Sabbath Eve von Castelnuovo-Tedesco Service Sacré pour le samedi matin von Darius Milhaud und The Song of Songs von Lucas Foss.

Milhaud: Service Sacré pour le Samedi Matin:


 

Mario Castelnuovo-Tedesco griff auch nach der alten hebräischen Poesie des Dichters Moses-Ibn-Ezra, die er für seinen Liederzyklus The Divan of Moses Ibn Ezra verwendete:


 

In den USA war es Leonard Bernstein, der sehr bewusst jüdische Themen in seiner Musik anwendete. (Symphonie Nr. 3, Dybbuk Suite, A Jewish Legacy):

 

Weniger bekannt sind Paul Schoenfield und sein prächtiges Altviolinenkonzert King David dancing before the ark. Und Marvin David Levy, der in seiner Kantate ’Canto de los Marranos’ sephardische Motive verwendete:

 

Der Argentinier Osvaldo Golijov (1960, La Plata) weiß in seinen sowohl klassischen als auch in Filmkompositionen, jüdische lithurgische Musik und Klezmer mit den Tangos von Astor Piazzolla zu kombinieren. Er arbeitet oft mit dem Klarinettisten David Krakauer und für das Kronos Quartett hat er ein sehr intrigierendes Werk ‘The Dreams and Prayers of Isaac the Blind’ komponiert:


 

                                               DMITRI SCHOSTAKOWITSCH

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Was für Gründe der nicht jüdische Sjostakowitsj hatte, um jüdische Elemente in seiner Musik zu verwenden, ist nicht komplett deutlich, aber es brachte in jedem Fall prächtige Musik hervor. Sein Piano trio op. 67 schrieb er schon 1944. Bei der ersten Aufführung davon, musste der letzte, der “Jüdische Teil” wiederholt werden. Es war zugleich das letze Mal, dass es während des Stalinismus gespielt wurde.

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1948 komponierte er einen Liederzyklus für Sopran, Mezzosopran und Tenor „Aus der jüdischen Volkspoesie“ – inzwischen schon viele Male aufgenommen und (zurecht!) sehr geliebt.

Alte Melodia Aufnahme des Zyklus:

1962 komponierte er die 13. Symphonie die Babi Jar, auf der Grundlage eines Gedichts von Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko. Babi Jar ist der Name einer Schlucht in Kiew. 1941 wurden dort durch die Nazis mehr als 100.000 Juden ermordet:


 

1990 wurde die Stiftung The Milken Archive of American Jewish Music gegründet, um alle Schätze der jüdischen Musik, entstanden im Laufe der amerikanischen Geschichte, aufzunehmen. Das Archiv besteht inzwischen aus (unter anderem) mehr als 700 aufgenommenen Musikwerken, verteilt auf 20 Themen. Die CDs werden weltweit vertrieben durch ein Budgetlabel Naxos. Niemand, der an jüdischer Musik interessiert ist (und an deren Geschichte), kommt daran vorbei.

* Dieser Satz steht auf dem Erinnerungsstein, der auf dem Friedhof Muiderberg aufgestellt wurde, zum Gedenken an den durch die Nazis ermordeten Dirigenten Sam Englander und seinen Amsterdamer jüdischen Chor der großen Synagoge.

Deutsche übersetzung: Beate Heithausen

Originele artikel in het Nederlands:
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Entartete Musik, Theresienstadt und Channel Classics. Deutsche Übersetzung

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Ende der 80er Jahre, des vorigen Jahrhunderts, kam die Musik liebende Welt (und damit meine ich nicht nur die Hörerschaft, sondern auch die Publizisten, Rezensenten und Musikfachleute) dahinter, dass da mehr ist zwischen Himmel und Erde; oder nun, wo wir über Musik sprechen: zwischen Strauss und Stockhausen. Man fing an zu realisieren, dass eine ganze Generation Komponisten aus den Geschichtsbüchern und von den Konzertbühnen entfernt wurde. Innerhalb kurzer Zeit. Dies war nicht alleine die Schuld der Nazis

1988 wurde die Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf ausgerichtet, exakt 50 Jahre nach der ursprünglichen Nazi-Aufführung. Die Ausstellung hatte auch emotionale Auswirkungen auf andere Städte, worunter auch Amsterdam, und wurde der Auslöser um Fragen zu stellen.

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Der Term „entartet“ wurde nicht von den Nazis erfunden. Schon im 19. Jh. wurde er in der Kriminologie benutzt, es bedeutete so etwas wie: „biologisch degeneriert“. Der Term wurde gerne durch die Machthaber des Dritten Reiches ausgeliehen, um die Kunstgattungen zu verbieten, die sie „unarisch“ fanden. Modernismus, Expressionismus, Jazz … und alles, was mit Juden in Verbindung gebracht wurde, denn sie waren im Voraus schon degeneriert, in dem Fall als Rasse.

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Was als Verbot begann, entwickelte sich schon schnell als Ausschluss und resultierte in Mord. Diejenigen, denen es geglückt war nach Amerika oder England zu flüchten, haben den Krieg überlebt. Wer in Europa blieb, war verdammt. Viele, hauptsächlich tschechische Komponisten wurden über Terezín in die Vernichtungslager deportiert, viele landeten dort geradewegs. Nach dem Krieg wurden sie total vergessen, und so zum zweiten Mal ermordet. Wer es überlebte, wurde als hoffnungslos altmodisch bezeichnet und nicht gespielt.

Es begann erst Ende der 80er Jahre, dass man ein Bewusstsein dafür entwickelte, dass Korngold mehr war als nur ein Komponist von erfolgreicher Hollywood-Filmmusik; dass ohne Schreker und Zemlinski wahrscheinlich auch kein Strauss gewesen wäre, und Boulez und Stockhausen nicht die Ersten waren, die mit Serialismus spielten. Das Umdenken kam für die meisten der Überlebenden zu spät.

In Deutschland wurde eine Stiftung Musica Reanimata gegründet, aber auch die Niederlande blieben nicht dahinter zurück. Unter dem Namen Musica Ritrovata haben ein paar Enthusiasten einen Versuch gewagt, um die Musik zurück auf die Konzertbühnen zu bringen.

Dass dies glückte, war auch Channel Classics zu verdanken. Das niederländische CD-Label, gegründet durch Jared Sachs, war das Allererste, welche die Musik der „vergessenen“ Komponisten begann aufzunehmen.

Schon in den Jahren 1991 und 1992 veröffentlichten sie 4 Cds mit der Musik der „Theresienstadt-Komponisten“, von denen man beinahe niemals vorher etwas gehört hatte: Gideon Klein, Hans Krása, Pavel Haas, Viktor Ullman… Und das, wo die letzten drei doch vor dem Krieg wirklich ein Begriff waren. Gideon Klein hatte die Chance nicht – er wurde schon in seinem 24. Lebensjahr vergast.

Die ersten vier Cds von Channel Classics waren echte Pionierarbeit. Von Hans Krása wurde in Prag die Kinderoper Brundibar aufgenommen. Brundibar wurde noch vor dem Krieg komponiert, aber seine Premiere fand 1943 in Terezín statt.

 

 

 

Die CD (CCS 5198) wurde kombiniert mit Liedern von Domažlicky. Kein Überflieger, aber ohne Zweifel interessant.

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Großartig hingegen ist die Aufnahme von Krásás Kammermusik durch das La Roche Quartett (CCS 3792), womöglich die beste Darbietung die davon existiert.

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Von allen Schülern von Janácek gelang es Pavel Haas am besten, die Einflüsse seines Lehrers mit eigener musikalischer Sprache zu kombinieren. Auf Bitten von Karel Berman (Bass) schrieb er in 1944 Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie. Berman, der den Krieg überlebte, hat sie zusammen mit seinen eigenen Liedern (CCS 3191) aufgenommen

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Aber am schönsten finde ich, neben dem dritten Streichquartett von Victor Ulmann, die Aufnahme mit vier Werken des 24-jährigen Gideon Klein. Lausche nach seinem Trio und erschaudere. (CCS1691)

 

 

Channel Classics macht weiter – nun in Zusammenarbeit mit dem unübertroffenen Werner Herbers und seiner Ebony Band. Durch ihn sind viele Komponisten mehr als eine Meldung in Wikipedia geworden. Denken Sie an Schulhoff: Sie kennen doch sicher seine CD mit Dada-inspirierten Werken, mit den Zeichnungen von Otto Griebel?

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Ebony Band und Loes Luca in Sonata Erotica:

 

Denken Sie an Wolpe von dem er während des HF (Holland Festival) die Oper Zeus und Elida aufgeführt hat, und dessen Musik er noch stets aufnimmt – die neueste heißt Dancing. Außer Wolpe, Milhaud und Martinů sind dort auch Werke von Emil František Burian und Mátyás Seiber zu finden.

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Und denken Sie an den polnischen Józef Koffler, während des Krieges ermordet. Sein Streichtrio und die prächtige Kantate Die Liebe (gesungen durch Barbara Hannigan), steht neben dem Quintett des anderen unbekannten Polen Konstanty Regamey (CCS31010).

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Übersetzung: Beate Heithausen

In het Nederlands: Entartete Musik, Teresienstadt en Channel Classics

 

Nelly Miricioiu Königin des Belcanto

Nelly Miricioiu/ Foto Opera Rara/ Duncan Russell

Nelly Miricioiu

 

 Jedem Belcanto-Liebhaber ist der Name Nelly Miricioiu ein Begriff! Ihre unendlich vielen Live-Aufnahmen von Rossini, Bellini, Donizetti sind in so gut wie jedem Regal von Sammlern zu finden, die sich für diese Spielart der Oper interessieren. Ihre Einspielungen seltener Donizetti-Opern bei Opera Rara vor allem haben ihren Ruhm verewigt, zu dem auch der jüngst verstorbene Walter Knoeff mit seinen Dokumenten auf Gala oder opera-club.net beigetragen hat. Die eigenwillige, höchst individuelle Sopranstimme der Miricioiu war in der Lage, sich problemlos für die Norma ebenso wie für die Anna Bolena oder Semiramide zu eignen. Aber – und das macht ihre große Bandbreite aus – auch das veristische Repertoire von La Fiamma bis zur Francesca da Rimini, von Cilea bis Puccini und Alfano war ihre Domäne. Ich selber habe sie an vielen, vielen Abenden in Italien, London (wo sie wohnt) oder anderswo gehört und bewundert. Ihre Tosca neben Robert Hale und Neil Shicoff gehört zu den spannendsten Verkörperungen meiner Opernerfahrung. Was für eine furchtlose, engagierte und sich in ihre Partien bis zur Selbstaufgabe stürzende Sängerin! Eine wirklich Künstlerin, nicht nur eine Besitzerin einer hochindividuellen Stimme, die man nicht vergisst. Namentlich in London und vor allem in Amsterdam war sie eine Göttin, eine wahre Kaiserin der Samstags-Matineen, jener unglaublichen und schon legendären Opernkonzerte im Amsterdamer Concertgebouw vor einer ebenso treuen wie jubelnden Fangemeinde. Unsere Kollegin Basia Jaworski traf La Miricioiu kürzlich auf einen Schwatz. G. H.

 

Nelly Miricioiu und Jihae Shin: Meisterklasse in Amsterdam/ Foto  Jeanne Doomen

Miricioiu in Amsterdam.Foto: Jeanne Domen


Jaworski:
Ich kann mir das Opernleben ohne Nelly Miricioiu nicht vorstellen. Mit ihrem markanten  Sopran, ihrem sehr charakteristischen Timbre und ihrem bis zur Perfektion beherrschten Vibrato, gehört sie seit Beginn der 80er Jahre zu der aussterbenden Rasse der wirklichen  Diven vom Typ einer Callas, Scotto oder Olivero. Meine frühesten Opernerinnerungen führen mich zurück zu Thaïs mit Nelly Miricioiu. Danach konnte ich sie 25 Jahre lang im Grote Zaal des Concertgebouws bewundern, während der unvergesslichen Samstagsmatinéen, bei denen sie im Ganzen 17 verschiedene Rollen gesungen hat – Ihre Palette hier reichte von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi bis hin zu  Puccini, Zandonai und Mascagni. Ich bewunderte sie auf der Bühne in Brüssel als Anna Bolena und in Antwerpen als Magda (La Rondine) und Anna (Le Villi). Zwischen ihr und der Amsterdamer Oper wollte es jedoch nicht klappen. Luisa Miller scheiterte an einer idiotischen Regie, und bei Norma wurde sie krank und bekam Stimmprobleme. Was für ein Verlust, denn die Miricioiu ist nicht nur eine wunderbare Sängerin, sondern auch eine phänomenale Schauspielerin.

 

 

Miricioiu Opera Rara recitalIm März war Nelly Miricioiu ein paar Tage in Amsterdam für eine  Meisterklasse von jungen, vielversprechenden Sängern. Ich durfte einer „Lehrstunde“ beiwohnen und schaute gebannt  zu, wie sie versuchte, der jungen Südkoreanerin Jihae Shin die Grundlagen der Belcantogesangstechnik nahezubringen. Miricioiu ist eine sehr physisch präsente Lehrerin. Sie singt das eine oder andere vor und lässt ihre Schüler fühlen, wie die Muskeln auf bestimmte Klänge reagieren. Wie man diese besser, eindrucksvoller oder einfach präziser erzielen kann. Sie legt ihre Hand auf Shins Bauch und schüttelt mit ihrem Kopf: Nein, so geht das nicht. „Fühle mal“, sagt sie und legt Shins Hand auf ihren eigenen Bauch. Das ganze Gesicht wird bei der Unterrichtsstunde einbezogen: von den Schläfen, Augen, Wangenknochen bis zum Kinn. Die Lippen müssen weiter auseinander gezogen werden, der Mund muss breiter, viel breiter sein! Hört sie nun, was für einen Unterschied dies macht? Jihae Shin ist eine aufmerksame Studentin, sie behält alles gut und macht alles brav nach, was ihr aufgetragen wurde. „Brava“, ruft die Lehrerin, aber die Koloratur (es wird „Caro nome“ aus Rigoletto einstudiert), die muss doch wirklich anders werden! „Das „Haha haha haha“ musst Du nicht akzentuieren, das macht Reinild (die Pianistin Reinild Mees, die nicht nur alle Unterrichtsstunden begleitet, sondern auch physisch mitmacht, BJ) schon am Klavier. Du musst flüssig darüber weggleiten, Du darfst Deine Technik nicht hören lassen. Und vergiss das Lächeln nicht, Deine Lippen, Deine Lippen …“ Miricioiu macht es kurz vor und alles passt wieder. Genau wie etwas später bei “Ah! Non credea mirarti” aus La Sonnambula. Die Studentin macht es fantastisch, und den Beiden ist die Rührung anzusehen.

 

Die Diva und ihr Mentor: Nelly Miricioiu und Patric Schmidt, der Firmenchef und spiritus rector von Opera Rara/ Opera Rara mit Dank

Nun also ein paar Fragen: Was lieben Sie am Unterrichten? Und: Ist es nicht schrecklich ermüdend? Ach ich liebe das sehr. Nicht jeder gute Sänger ist ja auch ein guter Lehrer, aber ich denke, dass ich das nicht schlecht mache mache. Es ist eine Tatsache, dass viele von meinen Lehrlingen es wirklich weit bringen und darauf bin ich stolz. Eine Meisterklasse kann man natürlich nicht mit dem wirklichen Unterricht vergleichen, aber selbst dann hoffe ich, dass ich etwas Wesentliches rüberbringen kann. Etwas das bleibt und vor allem weiter hilft. Ich schaue auch oft bei den Meisterklassen vorbei, die meine Kollegen geben, so lerne ich selbst auch noch etwas. Ich bin noch immer sehr lernbegierig.

Sehen Sie: Es geht nicht allein um die Stimme oder das Talent, harte Arbeit und/oder Ausstrahlung. Es geht um das komplette Bild. Wenn man gut aussiehst, ist das natürlich von Vorteil, aber für mich gilt, dass man mit seiner Stimme überzeugen muss und nicht mit seinem Aussehen. Auf der anderen Seite … Gestern habe ich Il Matrimonio Segreto von Cimarosa hier in Amsterdam gesehen, mit wirklich fantastischen jungen Sängern, die auch noch optisch zu ihren Partien passten. Das war einfach ideal.

Nelly Miricioiu: recording "Rosmonda d´Inghilterra" für Opera rara/ Dank an Opera rara/ Duncan Russell

Es gibt wenig wirklich gute Lehrer! Und Sänger, vor allem junge Sänger,  sind Wegwerfartikel geworden. Das Einzige, was zählt, ist der Wettbewerb, und da herrscht auch viel Angst. Denn wenn man sich nicht bedingungslos den Ansprüchen fügt, dann sind da Dutzende, wenn nicht Hunderte andere, die schon in der Reihe stehen, um es von dir zu übernehmen. Ich habe Vorsingen mitgemacht, wo den Sängern gesagt wurde: Du bist wirklich großartig, aber es sind noch viel mehr, die genauso großartig sind wie Du. Also der Nächste!“

Was denken Sie über die vielen Gesangs-Wettbewerbe, die es gibt? Ich finde sie sehr wichtig. Ohne weiteres. Man kann wirklich nicht ohne sie. Wenn man sich als junger Sänger profilieren will, wenn man sich sehen lassen will, dann muss man da mitmachen. Mitunter „springt man“ von einem zum anderen Wettbewerb, in der Hoffnung zu gewinnen und entdeckt zu werden. Was nicht hilft: Viele dieser Wettbewerbe können sich nicht entscheiden, wofür sie eigentlich bestimmt sind. Wollen sie ein Karrieresprungbrett sein für junge und beginnende Sänger oder muss der Gewinn des Wettbewerbs den bereits arrivierten Sängern mehr Bekanntheit und bessere Rollen bringen? Darin unterscheidet sich der IVC (International Vocal Competition) in sehr positiver Weise. Man erhält alle Aufmerksamkeit und es wird dafür gesorgt, dass man „reicher“ zurückkommt, auch wenn man nicht gewinnt. Man bekommt dort Meisterklassen und gute Ratschläge. Und die Atmosphäre ist sehr freundlich und gemütlich.

 

Nelly Miricioiu: Silvana in "La Fiamma" an der römischen Oper/ Foto Opera di Roma

Was halten Sie von superrealistischen Szenen auf der Bühne, von Szenen mit Gewalt und explizitem Sex, wie das immer mehr zuzunehmen scheint? Es ist nichts einzuwenden gegen realistische Bilder, aber muss es in allen Details zu sehen sein? Schockieren, um zu schockieren? Alles sehen lassen, was man es auch im TV oder im Netz sehen kann? Ich weiß, dass es Vergewaltigungen im realen Leben gibt, aber muss das auf der Bühne dargestellt werden? Vulgarität auf der Bühne, das habe ich niemals verstanden. Ist auch nirgends nötig. Ich erinnere mich an die Produktion von La Fiamma von Respighi mit dem fantastischen, rumänischen Tenor und meinem sehr lieben Kollegen Gabriel Sadé. Der Regisseur wollte die Liebesnacht so realistisch wie möglich ins Bild bringen: nackt also. Das fühlte sich für uns Sänger nicht gut an. Auf diese Art würde ich mich niemals auf die Rolle konzentrieren können und sicher nicht auf das Singen. Das wollte ich nicht. Es wurde damals beschlossen, uns eine Art „zweite Haut“ zu geben. Es sah sehr realistisch aus, aber für mein Gefühl hatte ich nichts an und war nackt. Unangenehm.

 

Nelly Miricioiu: recording "Marina, Regina d´Inghilterra" für Opera Rara/ Foto Duncan Russell/ Dank an Opera Rara

Lassen Sie uns über Verismo reden. Eine Strömung, die gegenwärtig so sehr  vernachlässigt wird. Es sind auch wenige Sänger, die in dem veristischen Stil singen können. Woran liegt das? Wird das Repertoire zu wenig gespielt, da es keine Sänger mehr dafür gibt? Oder gibt es keine veristischen Sänger, da es nicht gespielt wird? Beides natürlich. Verismo wird als nicht „intellektuell“ genug angesehen, darauf schaut man gegenwärtig herab. Wir leben in einer Zeit, die arm ist an echten Emotionen, an echten Gefühlen: Liebe, Empathie, Glaube. Emotionen zeigen gilt als altmodisch, da kann man nichts mit anfangen, wenn man konzeptionell arbeitet. Es gibt keine Nuancen mehr, die haben ausgedient. Aber es sind auch wenige Sänger, die es singen können, das ist wahr. Während der Ausbildung wird viel zu viel Nachdruck auf die technische Perfektion gelegt und zu wenig auf Individualität. Mode und Hype spielen auch eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Früher konnte man keine Rossini-Oper ordentlich besetzen, gegenwärtig wimmelt es von den Rossini- und Belcantospezialisten. Heute scheint es so, als ob nur zwei Alternativen bestehen: Alte Musik und frühen Belcanto und Wagner. Irgendwo dazwischen haben wir nicht nur den Verismo, sondern auch Verdi verloren. Man kann leichter einen Tristan besetzen als Macbeth. Das gibt zu doch denken. Aber – und dies ist nicht zu unterschätzen – die einseitige Auswahl liegt auch an den Dirigenten und ihren Prioritäten. Die Orchester sind groß und laut und glitzernd, und mit Wagner oder Strauss kann der Dirigent besser glänzen.

Nelly Miricioiu: "Library talk" bei Opera Rara, London/ Foto Duncan Russell/ Dank an Opera Rara

Ich selber habe eine veristische Natur, die sitzt in mir, mein Körper schreit nach Emotionen. Alles, was ich erreicht habe, habe ich Jan Zekveld (der ehemalige Chef der Zaterdag Matinee) und Patric Schmid (Mitbegründer und Direktor der Opera Rara) zu verdanken. Sie begriffen meinen Charakter und entdeckten meine Möglichkeiten.  Beide sahen mein Potenzial und haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Sie waren meine Taufpaten. Basia Jaworski

Übersetzung Beate Rothen-Heithausen
mit Dank: das Foto oben zeigt Nelly Miricioiu bei einer der berühmten “Library talks” der Opera Rara in London/ Foto Duncan Russell/ Opera Rara – mit Dank an Kim Panter).

Und zum Schluss ein Paar akustische Eindrücke von Nelly Miricioiu. Apropos Emotion: “Io son l’umile ancella” aus AdrianaLecouvreur von Cilea:

 Miricioiu in einer ihrer vielen Belcantorollen: Antonina aus Belisario von Donizetti Egli è spento, e del perdono”:

Nelly Miricioiu Fanklub:
https://www.facebook.com/groups/NellyMiricioiuFanclub/?fref=ts

http://operalounge.de/features/portraits-interviews/nelly-miricioiu

Dutch original: Nelly Miricioiu – Keizerin van de ZaterdagMatinee