
Königin des Belcanto
Nelly Miricioiu
Die Sängerin bei ihrer Amsterdamer Meisterklasse
Jedem Belcanto-Liebhaber ist der Name Nelly Miricioiu ein Begriff! Ihre unendlich vielen Live-Aufnahmen von Rossini, Bellini, Donizetti sind in so gut wie jedem Regal von Sammlern zu finden, die sich für diese Spielart der Oper interessieren. Ihre Einspielungen seltener Donizetti-Opern bei Opera Rara vor allem haben ihren Ruhm verewigt, zu dem auch der jüngst verstorbene Walter Knoeff mit seinen Dokumenten auf Gala oder opera-club.net beigetragen hat. Die eigenwillige, höchst individuelle Sopranstimme der Miricioiu war in der Lage, sich problemlos für die Norma ebenso wie für die Anna Bolena oder Semiramide zu eignen. Aber – und das macht ihre große Bandbreite aus – auch das veristische Repertoire von La Fiamma bis zur Francesca da Rimini, von Cilea bis Puccini und Alfano war ihre Domäne. Ich selber habe sie an vielen, vielen Abenden in Italien, London (wo sie wohnt) oder anderswo gehört und bewundert. Ihre Tosca neben Robert Hale und Neil Shicoff gehört zu den spannendsten Verkörperungen meiner Opernerfahrung. Was für eine furchtlose, engagierte und sich in ihre Partien bis zur Selbstaufgabe stürzende Sängerin! Eine wirklich Künstlerin, nicht nur eine Besitzerin einer hochindividuellen Stimme, die man nicht vergisst. Namentlich in London und vor allem in Amsterdam war sie eine Göttin, eine wahre Kaiserin der Samstags-Matineen, jener unglaublichen und schon legendären Opernkonzerte im Amsterdamer Concertgebouw vor einer ebenso treuen wie jubelnden Fangemeinde. Unsere Kollegin Basia Jaworski traf La Miricioiu kürzlich auf einen Schwatz. G. H.

Miricioiu in Amsterdam.Foto: Jeanne Domen
Jaworski: Ich kann mir das Opernleben ohne Nelly Miricioiu nicht vorstellen. Mit ihrem markanten Sopran, ihrem sehr charakteristischen Timbre und ihrem bis zur Perfektion beherrschten Vibrato, gehört sie seit Beginn der 80er Jahre zu der aussterbenden Rasse der wirklichen Diven vom Typ einer Callas, Scotto oder Olivero. Meine frühesten Opernerinnerungen führen mich zurück zu Thaïs mit Nelly Miricioiu. Danach konnte ich sie 25 Jahre lang im Grote Zaal des Concertgebouws bewundern, während der unvergesslichen Samstagsmatinéen, bei denen sie im Ganzen 17 verschiedene Rollen gesungen hat – Ihre Palette hier reichte von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi bis hin zu Puccini, Zandonai und Mascagni. Ich bewunderte sie auf der Bühne in Brüssel als Anna Bolena und in Antwerpen als Magda (La Rondine) und Anna (Le Villi). Zwischen ihr und der Amsterdamer Oper wollte es jedoch nicht klappen. Luisa Miller scheiterte an einer idiotischen Regie, und bei Norma wurde sie krank und bekam Stimmprobleme. Was für ein Verlust, denn die Miricioiu ist nicht nur eine wunderbare Sängerin, sondern auch eine phänomenale Schauspielerin.
Im März war Nelly Miricioiu ein paar Tage in Amsterdam für eine Meisterklasse von jungen, vielversprechenden Sängern. Ich durfte einer „Lehrstunde“ beiwohnen und schaute gebannt zu, wie sie versuchte, der jungen Südkoreanerin Jihae Shin die Grundlagen der Belcantogesangstechnik nahezubringen. Miricioiu ist eine sehr physisch präsente Lehrerin. Sie singt das eine oder andere vor und lässt ihre Schüler fühlen, wie die Muskeln auf bestimmte Klänge reagieren. Wie man diese besser, eindrucksvoller oder einfach präziser erzielen kann. Sie legt ihre Hand auf Shins Bauch und schüttelt mit ihrem Kopf: Nein, so geht das nicht. „Fühle mal“, sagt sie und legt Shins Hand auf ihren eigenen Bauch. Das ganze Gesicht wird bei der Unterrichtsstunde einbezogen: von den Schläfen, Augen, Wangenknochen bis zum Kinn. Die Lippen müssen weiter auseinander gezogen werden, der Mund muss breiter, viel breiter sein! Hört sie nun, was für einen Unterschied dies macht? Jihae Shin ist eine aufmerksame Studentin, sie behält alles gut und macht alles brav nach, was ihr aufgetragen wurde. „Brava“, ruft die Lehrerin, aber die Koloratur (es wird „Caro nome“ aus Rigoletto einstudiert), die muss doch wirklich anders werden! „Das „Haha haha haha“ musst Du nicht akzentuieren, das macht Reinild (die Pianistin Reinild Mees, die nicht nur alle Unterrichtsstunden begleitet, sondern auch physisch mitmacht, BJ) schon am Klavier. Du musst flüssig darüber weggleiten, Du darfst Deine Technik nicht hören lassen. Und vergiss das Lächeln nicht, Deine Lippen, Deine Lippen …“ Miricioiu macht es kurz vor und alles passt wieder. Genau wie etwas später bei “Ah! Non credea mirarti” aus La Sonnambula. Die Studentin macht es fantastisch, und den Beiden ist die Rührung anzusehen.
Nun also ein paar Fragen: Was lieben Sie am Unterrichten? Und: Ist es nicht schrecklich ermüdend? Ach ich liebe das sehr. Nicht jeder gute Sänger ist ja auch ein guter Lehrer, aber ich denke, dass ich das nicht schlecht mache mache. Es ist eine Tatsache, dass viele von meinen Lehrlingen es wirklich weit bringen und darauf bin ich stolz. Eine Meisterklasse kann man natürlich nicht mit dem wirklichen Unterricht vergleichen, aber selbst dann hoffe ich, dass ich etwas Wesentliches rüberbringen kann. Etwas das bleibt und vor allem weiter hilft. Ich schaue auch oft bei den Meisterklassen vorbei, die meine Kollegen geben, so lerne ich selbst auch noch etwas. Ich bin noch immer sehr lernbegierig.
Sehen Sie: Es geht nicht allein um die Stimme oder das Talent, harte Arbeit und/oder Ausstrahlung. Es geht um das komplette Bild. Wenn man gut aussiehst, ist das natürlich von Vorteil, aber für mich gilt, dass man mit seiner Stimme überzeugen muss und nicht mit seinem Aussehen. Auf der anderen Seite … Gestern habe ich Il Matrimonio Segreto von Cimarosa hier in Amsterdam gesehen, mit wirklich fantastischen jungen Sängern, die auch noch optisch zu ihren Partien passten. Das war einfach ideal.
Es gibt wenig wirklich gute Lehrer! Und Sänger, vor allem junge Sänger, sind Wegwerfartikel geworden. Das Einzige, was zählt, ist der Wettbewerb, und da herrscht auch viel Angst. Denn wenn man sich nicht bedingungslos den Ansprüchen fügt, dann sind da Dutzende, wenn nicht Hunderte andere, die schon in der Reihe stehen, um es von dir zu übernehmen. Ich habe Vorsingen mitgemacht, wo den Sängern gesagt wurde: Du bist wirklich großartig, aber es sind noch viel mehr, die genauso großartig sind wie Du. Also der Nächste!“
Was denken Sie über die vielen Gesangs-Wettbewerbe, die es gibt? Ich finde sie sehr wichtig. Ohne weiteres. Man kann wirklich nicht ohne sie. Wenn man sich als junger Sänger profilieren will, wenn man sich sehen lassen will, dann muss man da mitmachen. Mitunter „springt man“ von einem zum anderen Wettbewerb, in der Hoffnung zu gewinnen und entdeckt zu werden. Was nicht hilft: Viele dieser Wettbewerbe können sich nicht entscheiden, wofür sie eigentlich bestimmt sind. Wollen sie ein Karrieresprungbrett sein für junge und beginnende Sänger oder muss der Gewinn des Wettbewerbs den bereits arrivierten Sängern mehr Bekanntheit und bessere Rollen bringen? Darin unterscheidet sich der IVC (International Vocal Competition) in sehr positiver Weise. Man erhält alle Aufmerksamkeit und es wird dafür gesorgt, dass man „reicher“ zurückkommt, auch wenn man nicht gewinnt. Man bekommt dort Meisterklassen und gute Ratschläge. Und die Atmosphäre ist sehr freundlich und gemütlich.
Was halten Sie von superrealistischen Szenen auf der Bühne, von Szenen mit Gewalt und explizitem Sex, wie das immer mehr zuzunehmen scheint? Es ist nichts einzuwenden gegen realistische Bilder, aber muss es in allen Details zu sehen sein? Schockieren, um zu schockieren? Alles sehen lassen, was man es auch im TV oder im Netz sehen kann? Ich weiß, dass es Vergewaltigungen im realen Leben gibt, aber muss das auf der Bühne dargestellt werden? Vulgarität auf der Bühne, das habe ich niemals verstanden. Ist auch nirgends nötig. Ich erinnere mich an die Produktion von La Fiamma von Respighi mit dem fantastischen, rumänischen Tenor und meinem sehr lieben Kollegen Gabriel Sadé. Der Regisseur wollte die Liebesnacht so realistisch wie möglich ins Bild bringen: nackt also. Das fühlte sich für uns Sänger nicht gut an. Auf diese Art würde ich mich niemals auf die Rolle konzentrieren können und sicher nicht auf das Singen. Das wollte ich nicht. Es wurde damals beschlossen, uns eine Art „zweite Haut“ zu geben. Es sah sehr realistisch aus, aber für mein Gefühl hatte ich nichts an und war nackt. Unangenehm.
Lassen Sie uns über Verismo reden. Eine Strömung, die gegenwärtig so sehr vernachlässigt wird. Es sind auch wenige Sänger, die in dem veristischen Stil singen können. Woran liegt das? Wird das Repertoire zu wenig gespielt, da es keine Sänger mehr dafür gibt? Oder gibt es keine veristischen Sänger, da es nicht gespielt wird? Beides natürlich. Verismo wird als nicht „intellektuell“ genug angesehen, darauf schaut man gegenwärtig herab. Wir leben in einer Zeit, die arm ist an echten Emotionen, an echten Gefühlen: Liebe, Empathie, Glaube. Emotionen zeigen gilt als altmodisch, da kann man nichts mit anfangen, wenn man konzeptionell arbeitet. Es gibt keine Nuancen mehr, die haben ausgedient. Aber es sind auch wenige Sänger, die es singen können, das ist wahr. Während der Ausbildung wird viel zu viel Nachdruck auf die technische Perfektion gelegt und zu wenig auf Individualität. Mode und Hype spielen auch eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Früher konnte man keine Rossini-Oper ordentlich besetzen, gegenwärtig wimmelt es von den Rossini- und Belcantospezialisten. Heute scheint es so, als ob nur zwei Alternativen bestehen: Alte Musik und frühen Belcanto und Wagner. Irgendwo dazwischen haben wir nicht nur den Verismo, sondern auch Verdi verloren. Man kann leichter einen Tristan besetzen als Macbeth. Das gibt zu doch denken. Aber – und dies ist nicht zu unterschätzen – die einseitige Auswahl liegt auch an den Dirigenten und ihren Prioritäten. Die Orchester sind groß und laut und glitzernd, und mit Wagner oder Strauss kann der Dirigent besser glänzen.
Ich selber habe eine veristische Natur, die sitzt in mir, mein Körper schreit nach Emotionen. Alles, was ich erreicht habe, habe ich Jan Zekveld (der ehemalige Chef der Zaterdag Matinee) und Patric Schmid (Mitbegründer und Direktor der Opera Rara) zu verdanken. Sie begriffen meinen Charakter und entdeckten meine Möglichkeiten. Beide sahen mein Potenzial und haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Sie waren meine Taufpaten. Basia Jaworski
Übersetzung Beate Rothen-Heithausen
mit Dank: das Foto oben zeigt Nelly Miricioiu bei einer der berühmten “Library talks” der Opera Rara in London/ Foto Duncan Russell/ Opera Rara – mit Dank an Kim Panter).
Und zum Schluss ein Paar akustische Eindrücke von Nelly Miricioiu. Apropos Emotion: “Io son l’umile ancella” aus AdrianaLecouvreur von Cilea:
Miricioiu in einer ihrer vielen Belcantorollen: Antonina aus Belisario von Donizetti “Egli è spento, e del perdono”:
Nelly Miricioiu Fanklub:
https://www.facebook.com/groups/NellyMiricioiuFanclub/?fref=ts
http://operalounge.de/features/portraits-interviews/nelly-miricioiu
Dutch original: Nelly Miricioiu – Keizerin van de ZaterdagMatinee