Text Mordechai Aranowicz
Im Vorfeld der Nachmittagsvorstellung von Tosca an der Mailänder Scala vom 22.12.2019 war die Absage von Anna Netrebko bekannt geworden, auf deren Auftritte sich das Hauptinteresse der diesjährigen Inaugurazione konzentriert hatte. Saioa Hernandez, die seit ihren Auftritten als Odabella in Attila keine Unbekannte mehr ist, hatte jedoch bereits einen Teil der Tosca-Proben als Alternativbesetzung absolviert und war ohnehin für die drei Vorstellungen im Januar vorgesehen.

Saioa Hernandez © saioa-hernandez-ph-lourdes-balduque-gallery1
Da war es nur logisch, dass sie nach der Absage Netrebkos deren beide Dezember-Vorstellungen übernahm. Hernandez ist eine in jeder Hinsicht erstklassige Tosca. Eine klare, kräftige Stimme mit schöner Intonation, sicher geführt in allen Lagen. Eine wahre Entdeckung und ein absolut würdiger Ersatz für Anna Netrebko, von dem man hoffentlich noch viel hören wird! Für ihre musikalische Darbietung, sowie die glaubhafte und berührende Darstellung wurde Hernandez auch entsprechend vom Publikum gefeiert.

Francesco Meli © © Marco Brescia & Rudy Amisano | Teatro alla Scala
Bei einer so großartigen Titelrollensängerin hatten die Männer es schwer: Francesco Meli zeigte insbesondere bei ‘Recondita Armonia’ noch Anzeichen von Nervosität, seine ‘Vittoria-Rufe’ im zweiten Akt klangen jedoch deutlich frei gesungen und höhensicher, das wunderbar innig vorgetragene ‘E lucevan le stelle’ vermochte dann auch emotional zu berühren.

Luca Salsi © © Marco Brescia & Rudy Amisano | Teatro alla Scala
Luca Salsi polterte als Scarpia etwas grob stimmig durch die Vorstellung, blieb dagegen darstellerisch jedoch eher zurückhaltend und fand erst kurz vor seiner Ermordung zu der Brutalität, die der römische Polizeichef idealerweise verkörpern sollte.

© © Marco Brescia & Rudy Amisano | Teatro alla Scala
Davide Livermore hatte sich bei der Produktion für eine traditionelle Inszenierung entschieden, bei der (fast) alles so passiert, wie es im Textbuch steht. Die prachtvollen Bühnenräume des Mailänder Designstudios Gio Forma (aus drei Bühnenbildnern bestehend!), sorgten für viele Überraschungseffekte und optische Abwechslung, wobei die virtuose Bühnentechnik der Scala auf ein Maximum ausgereizt wurde. Allerdings wäre im ersten Akt etwas mehr Ruhe manchmal von Vorteil gewesen.
Gianluca Falaschis Kostüme waren dagegen weniger gelungen: Neben wirklich scheußlichen Kostümen für Tosca und Scarpia, wurden für dessen Agenten Ledermäntel entworfen, deren Schnitte der napoleonischen Zeit mit Nazi-Assoziationen kombinierten, welche in der sonst so stimmigen Produktion wie Fremdkörper wirkten.
Großartig gelöst auch die Schlussszene: Wenn sich Tosca von der Engelsburg stürzt, erleben wir perfekt koordiniert, wie eine Double in Lichtstrahlen gen Himmel schwebt.

© Marco Brescia & Rudy Amisano | Teatro alla Scala
Motor und Herz dieser wunderbaren Aufführung war Riccardo Chailly, dessen abwechslungsreiches Dirigat stets Spannung und Gefühlszustände kombinierte und so einen atemlosen Opernkrimi entstehen ließ. Als Besonderheit hatte sich Chailly für die Urfassung der Oper aus dem Jahr 1900 entschieden, welche an diversen Stellen Striche öffnete, wobei jedoch einzig ein kurzer Dialog zwischen Tosca und Scarpia in der Mitte des ‘Vissi d`arte’ etwas redundant wirkte. Ansonsten war es spannend, einmal mit dieser Alternativfassung konfrontiert zu sein. Am Ende großer, nicht enden wollender Jubel für alle Beteiligten.

© Mordechai Aranowicz






























Im März war Nelly Miricioiu ein paar Tage in Amsterdam für eine Meisterklasse von jungen, vielversprechenden Sängern. Ich durfte einer „Lehrstunde“ beiwohnen und schaute gebannt zu, wie sie versuchte, der jungen Südkoreanerin Jihae Shin die Grundlagen der Belcantogesangstechnik nahezubringen. Miricioiu ist eine sehr physisch präsente Lehrerin. Sie singt das eine oder andere vor und lässt ihre Schüler fühlen, wie die Muskeln auf bestimmte Klänge reagieren. Wie man diese besser, eindrucksvoller oder einfach präziser erzielen kann. Sie legt ihre Hand auf Shins Bauch und schüttelt mit ihrem Kopf: Nein, so geht das nicht. „Fühle mal“, sagt sie und legt Shins Hand auf ihren eigenen Bauch. Das ganze Gesicht wird bei der Unterrichtsstunde einbezogen: von den Schläfen, Augen, Wangenknochen bis zum Kinn. Die Lippen müssen weiter auseinander gezogen werden, der Mund muss breiter, viel breiter sein! Hört sie nun, was für einen Unterschied dies macht? Jihae Shin ist eine aufmerksame Studentin, sie behält alles gut und macht alles brav nach, was ihr aufgetragen wurde. „Brava“, ruft die Lehrerin, aber die Koloratur (es wird „Caro nome“ aus Rigoletto einstudiert), die muss doch wirklich anders werden! „Das „Haha haha haha“ musst Du nicht akzentuieren, das macht Reinild (die Pianistin Reinild Mees, die nicht nur alle Unterrichtsstunden begleitet, sondern auch physisch mitmacht, BJ) schon am Klavier. Du musst flüssig darüber weggleiten, Du darfst Deine Technik nicht hören lassen. Und vergiss das Lächeln nicht, Deine Lippen, Deine Lippen …“ Miricioiu macht es kurz vor und alles passt wieder. Genau wie etwas später bei “Ah! Non credea mirarti” aus La Sonnambula. Die Studentin macht es fantastisch, und den Beiden ist die Rührung anzusehen.



